Zehn Tage Nieselregeln, Kälte, Schlafmangel liegen hinter ihm, aber Marc Naumann sitzt nachts um neun schon wieder auf einem Schiff im Hamburger Hafen, bereit, gleich nach Amsterdam weiterzusegeln. Der 33 Jahre alte Skipper, Outdoor-Journalist und Gründer der Organisation „Segelrebellen“ klingt erfrischt. Er ist zufrieden, denn der spendenfinanzierte „Wikinger-Törn”, eine Boots-Überführung von Flensburg über Kopenhagen nach Rügen, war ein Erfolg.

Und das, obwohl alle Teilnehmer Segelneulinge waren und die Reise zeitweise beschwerlich war: „Wir haben drei Tage gebraucht auf einer kleinen Teilstrecke, für die nur ein Tag vorgesehen war“, erzählt er. „Aber dass es hart wird, war ja ein bisschen gewollt.” Denn er ist mit Menschen unterwegs, die erst wieder merken müssen, wozu sie fähig sind. Und dass sie wirklich am Leben sind.

„Als ich schließlich mit dem Zug von meinem Törn zurückfuhr, dachte ich mir: Dir kann jetzt rein gar nichts mehr passieren.“
Marc Naumann, zweimal an Krebs erkrankt

Ein Großteil seiner Mitreisenden hat zuvor eine Krebstherapie abgeschlossen, so wie er selbst vor drei Jahren. 2012 wurde bei dem Münchner zum zweiten Mal ein Hirntumor entdeckt, da stand er kurz vor dem Abschluss seines Jurastudiums. Noch während der Chemotherapie zog es ihn aufs Meer. „Ich wollte einfach lossegeln und dachte: Vielleicht komme ich an, vielleicht falle ich auch vom Schiff und werde irgendwo gefunden.“

Doch sein Arzt hielt ihn ab: „Er sagte, ich hätte einen Vogel.“ Naumann brauchte unbedingt ein Ziel, etwas, das in seiner Kontrolle lag. Also meldete er sich zum Segelschein an und plante eine Atlantiküberquerung. Er zog die Reise durch, ohne dem Skipper vorher von seiner Krankheit zu erzählen: Zwei Wochen extremes Wetter, immer wieder Erbrechen – aber er schaffte es. „Als ich schließlich mit dem Zug von diesem Törn zurückfuhr, dachte ich mir: Dir kann jetzt rein gar nichts mehr passieren.“

Immer hart am Wind

Dieses Selbstbewusstsein zeigt Naumann bei allem, was er tut. Seit der Gründung der Segelrebellen vor einem Jahr, deren Slogan „Fuck you cancer“ lautet, war das nicht wenig: Sei es, die Segeldokumentation „Einfach normal sein” mit Hilfe von Crowdfunding zu finanzieren oder selbst einen Messestand zu entwerfen – er macht einen Plan und dann läuft das schon. Irgendwie, irgendwann wird er sicherlich auch den Traum von einem eigenen Schiff für die Segelrebellen verwirklichen, damit er nicht mehr auf großzügige Yachtbesitzer angewiesen ist.

„Ich hatte Freunde, die haben mir im Krankenhaus gesagt: ‘Mensch, siehst du scheiße aus mit Glatze’.“
Marc Naumann, Gründer der Segelrebellen

Um den engagierten Skipper zu verstehen, muss man sich nur seinen Segelstil ansehen: „gegenan“ oder auch „hart am Wind“. Statt sich bequem vorwärts pusten zu lassen, segelt er möglichst gegen den Wind an und nutzt den aerodynamisch erzeugten Auftrieb wie bei den Tragflächen eines Flugzeugs.

Auf dem offenen Meer fast schon fliegen zu können, ja frei zu sein: Diese Erfahrung machte auf dem Wikingertörn auch sein Crewmitglied Arne Waldl. Erst vier Wochen zuvor hatte der 28 Jahre alte Veranstaltungstechniker den letzten Teil seiner Chemotherapie beendet und einen Hirntumor überwunden. Einer der schönsten Momente für den unerfahrenen Segler: „Als ich allein am Steuer stand, das Wasser peitschte mir ins Gesicht und die Wellen türmten sich vor mir auf.“ Naumann habe er von Anfang an vertraut, weil er kompetent und ehrlich auf ihn wirkte. „Würde etwas schieflaufen, Marc würde es offen sagen.“

Fordern statt in Watte packen

Der Segelrebell Naumann beobachtet auch an sich, dass er direkter geworden ist durch den Krebs und mehr auf seine wahren Bedürfnisse fokussiert. Als kurz nach seinem prägenden Segeltörn einer seiner Freunde aus dem Krankenhaus starb, wurde ihm bewusst, dass die Zeit für seine Leidenschaft kostbar ist: „In diesem Jahr war ich schon 18 Wochen segeln und es ist genau das, was ich machen will.“ Mit seinen herausfordernden Törns will er auch anderen jungen Menschen stärkende Erfahrungen auf dem Meer ermöglichen.

Junge Krebserkrankte hätten es nämlich besonders schwer, da ihr Leben meist noch im Aufbau sei, wenn die Diagnose kommt. „Man wird komplett rausgeworfen aus allem und kann nicht einfach wieder einsteigen als sei nichts gewesen“, sagt Naumann. Das Umfeld könne oft schlecht damit umgehen, das Verhalten der Menschen schwanke zwischen Ignoranz und extremer Vorsicht. „Entweder sollst du nach der Therapie wieder wie neu sein, oder aber man sagt dir ständig, dass du dich jetzt schonen musst.“ Diese Überfürsorglichkeit sei aber nicht hilfreich und Ehrlichkeit das Allerwichtigste. „Ich hatte Freunde, die haben mir im Krankenhaus gesagt: ‘Mensch, siehst du scheiße aus mit Glatze’.“

Naumann erzählt die Anekdote gern, weil sie zum rotzigen, trotzigen Charme der Segelrebellen gut passt. Die Botschaft ist eindeutig: Ja wir waren krank. Ja, wir brauchen womöglich Medikamente auf unserem Törn. Vielleicht kotzen wir ein bisschen öfter dabei. Aber verdammt noch mal, wir gehen segeln.
Die Angst vor der eigenen Sterblichkeit halte die Menschen davon ab, dem Krebs ehrlich gegenüber zu treten, sagt Naumann. Hätte er ihn nie gehabt, wäre er heute ein anderer. Er geht so weit zu sagen, dass alles gut war, wie es gekommen ist: „Die Krankheit hat mich persönlich weitergebracht.” Raus aufs Meer.