Manche Menschen steigern sich in gesunde Lebensführung so sehr hinein, dass sie davon psychisch und körperlich krank werden. Orthorexie heißt die Panik vor der falschen Ernährung. Wissenschaftler, Ärzte und Betroffene haben an der Störung ziemlich zu knabbern.


44,2 Kilo wog Claudia Hansen* noch, als sie ihr Zimmer in der Schön Klinik Bad Bramstedt bezog, der größten psychosomatischen Fachklinik Deutschlands. Doch anders als die jungen Mädchen auf der Station für Essstörungen war die heute 48 Jahre alte Buchhalterin nicht wegen einer Magersucht dort. Obwohl sie bei ihrer Größe von 165 Zentimetern und einem BMI von 16 durchaus untergewichtig war. Nur wollte Hansen gar nicht unbedingt dünner werden. Sie wollte einfach nur gesund bleiben.

„Ich hatte große Angst, dass ich Allergien bekomme oder krank werden könnte, wenn ich etwas Falsches esse“, sagt die Hamburgerin. Seit Monaten ernährte sie sich von Obst und Gemüse, meist zum Smoothie püriert. Manchmal kochte sie mittags Kartoffeln – aber höchstens zwei. Und wenn sie abends länger arbeiten musste, gab es für sie anschließend gar nichts mehr. „Die Regel, dass man nach 18 Uhr nichts mehr essen soll, musste ich einhalten“, sagt sie. „Ich habe alles gemacht, was man über gesunde Ernährung so liest.“

Essen als Lebensinhalt

Diese extreme Sorge um die perfekte Ernährung ist seit einigen Jahren als Orthorexia Nervosa bekannt. Der kalifornische Alternativmediziner und Yogalehrer Steve Bratmann beschrieb sie im Jahr 1997 erstmals ausführlich, nachdem er ein derartiges Verhalten bei manchen seiner Patienten beobachtet hatte. Obwohl er sogar tödliche Fälle von Mangelernährung kennt, schreibt Bratmann: Meistens leiden Orthorektiker nur unter einer psychologische Störung, bei der Ernährung so wichtig wird, dass sie alles andere überschattet. „Anstatt eines Lebens haben sie einen Speiseplan“, so Bratmann.

Er selbst war auch einige Zeit lang betroffen: Damals ernährte er sich nur von selbst angebautem, frisch geerntetem Gemüse. Das moralisch richtige und perfekt bekömmliche Essen war für ihn zum Lebensinhalt geworden. Wegen seiner anekdotischen Beobachtungen aus der Praxis und weil Bratmann keine wiederholbaren Studienergebnisse präsentieren konnte, fehlte jedoch die wissenschaftliche Anerkennung für eine solche Störung.

Orthorexia Nervosa ist auch heute nicht offiziell als Krankheit klassifiziert, darum fehlen belastbare Zahlen dazu, wie viele Menschen betroffen sind. Die Grenze zwischen gesunder Ernährung und Orthorexie ist auf den ersten Blick für Laien tatsächlich nicht eindeutig: Fast alle machen wir uns ja hin und wieder Gedanken über unser Gewicht und darum, ob wir wirklich alle Nährstoffe bekommen, die der Körper braucht.

Bratmann betont in seinen Kriterien darum verstärkt das Zwanghafte der Orthorexie: Etwa, dass gegen gültige Empfehlungen immer mehr Lebensmittel weggelassen werden und eine Mahlzeit niemals „rein“ genug sein kann. Auf kleinste Verstöße gegen den Speiseplan würden tiefe Scham und irrationale Ängste folgen.

Die Suche nach dem Königsweg der Ernährung

Hilfe suchen die Betroffenen nur selten. „Manche kommen erst zu uns, wenn sie sich in den ganzen Ernährungsregeln richtig verzettelt und ihre Alltagsaktivitäten dadurch massiv eingeschränkt haben“, sagt der Psychiater Bernhard Osen. Er ist Chefarzt an der Schön Klinik Bad Bramstedt; Claudia Hansen gehörte zu seinen bisher wenigen Patienten mit einem eindeutig orthorektischen Verhalten. „Die Betroffenen fühlen sich meist ja auf dem rechten Weg mit ihrer Ernährung. Sie sehen sich gewissermaßen als Experten für gesunde Ernährung und versuchen sogar, ihre Familie und Freunde zu missionieren.“

Osen sieht bei den Ursachen einige Überlappungen zwischen Magersucht und Orthorexie: „Oft ist die Essstörung ein Weg, Sicherheit und Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen.“ Mit eiserner Disziplin bessern manche Patienten ihr Selbstwertgefühl auf: „Orthorektiker fühlen sich zudem gesünder und reiner und glauben, zumindest bei der Ernährung anderen überlegen zu sein.“ Magersüchtige, die selbst vor Kalorien in der Zahnpasta Angst haben oder nur noch Karotten essen, mögen auf den ersten Blick ein größeres Problem haben als Orthorexie-Patienten. Doch auch die entwickeln auf der Suche nach der bestmöglichen Lehre womöglich körperliche Mängel. „Oft beginnt es mit einer einzigen Ernährungsform, etwa dem Veganismus“, erklärt Osen. „Aber sie bleiben nicht dabei und lassen immer mehr Lebensmittel weg.“

Mehr Sport, mehr Gemüse, kein Genuss

Claudia Hansen rutschte in ein ungesundes Essverhalten, weil sie mit der richtigen Ernährung ihren Heuschnupfen und ihre sehr trockene Haut verbessern wollte. Eine Heilpraktikerin stellte bei ihr damals eine Übersäuerung des Körpers fest und empfahl Hansen, mehr Basen aufzunehmen. „Also habe ich mich belesen, meine Ernährung umgestellt und mich tatsächlich bald besser gefühlt“, sagt Hansen. Für sie war es der Beweis: „Ich habe selbst Schuld, wenn ich krank werde.“ Ein Schluck Cola oder Kohlenhydrate nach 14.00 Uhr glichen einem Verbrechen gegen die Gesundheit. Und so nahm sie immer weiter ab, als ihr Körper schon den Notstand ausrief: machte noch mehr Sport, wenn ihre Haut sich schlaff anfühlte oder aß mehr Orangen und noch weniger Fett, wenn sie müde war. „Ich sagte mir, Vitamin C bringt schließlich Power.“ Ohne essenzielle Fette kann der Körper Vitamin C jedoch gar nicht richtig aufnehmen. Orthorektiker hätten eine eigene Auslegung davon, was eine „richtige Ernährung“ ausmacht, sagt Christoph Klotter. Der Ernährungspsychologe an der Hochschule Fulda hat als einer der wenigen deutschen Forscher zu Orthorexie publiziert. „Essgestörte finden für sich einen Königsweg, oft ganz bewusst abseits vom Mainstream“, sagt er. „Für Ratschläge von außen sind sie nicht mehr empfänglich.“

Panische Angst vor Lebensmitteln

Ihre Therapie begann Hansen im Frühsommer diesen Jahres auch nur deshalb, weil sich ihre Tochter und ihr Mann so große Sorgen um sie machten.

Es fiel ihr anfangs schwer, auf die Ernährungs-Ratschläge ihrer Therapeuten zu hören. „Ich habe mich stur an den Blattsalat gehalten und noch mehr abgenommen“, sagt Hansen. So groß war die Angst, ein falsches Lebensmittel könnte ihren Körper sofort angreifen. „Aber irgendwann habe ich mich getraut und etwas probiert, das eigentlich verboten ist“, sagt Hansen. „Natürlich ist gar nichts passiert.“

An dieser Erkenntnis hält sie sich nun fest. „Ich muss aufpassen, die Gemüseportionen werden schon wieder größer“, sagt Hansen. Therapeutische Begleitung wäre auch nach dem stationären Aufenthalt für sie wichtig, aber die ist selbst in einer Stadt wie Hamburg schwer zu kriegen. Hansen feiert indes die kleinen Erfolge: „Gib mir mal die Marmelade“ – so ein Satz beim gemeinsamen Frühstück mit der Familie macht sie froh. „Früher habe ich ja immer nur ‚meins’ gegessen.“

Ihren Arbeitskollegen und Freunden war das natürlich aufgefallen, doch erst jetzt geben sie zu, wie besorgt sie im Stillen schon lange um sie waren: Wie soll man auch zu jemandem sagen, dass er ganz und gar ungesund wirkt, obwohl er doch scheinbar alles richtig macht?

Auch Ärztinnen essen mal Chips

Die Ärztin, Yoga-Lehrerin und Gesundheitsberaterin Janna Scharfenberg kennt solche heiklen Gespräche aus ihrer Ernährungsberatung in Zürich. „Manchmal suchen Klienten bei mir die Anerkennung für ihr sowieso schon sehr striktes Essverhalten.“ Die gebürtige Bayerin würde in so einem Fall sehr genau hinschauen, ob es wirklich darum gehe, gesund zu leben. „Oft steckt dahinter der Wunsch, genauso schlank zu sein wie die Frau nebenan auf der Yoga-Matte“, sagt die Ärztin. „Dann muss ich ganz behutsam erklären, warum ich diesen Weg nicht uneingeschränkt begleiten kann.“ Sind die Betroffenen einsichtig, empfiehlt sie ihnen hilfreiche Fachleute aus ihrem Netzwerk.

Dass manche den Genuss beim Essen verlieren, überrascht Scharfenberg nicht. „Der Druck, seinen Körper optimal zu pflegen und schlank zu sein, ist gestiegen.“ Als Ärztin und Gesundheitsberaterin versucht sie, ein freudvolles Verhältnis zum Essen zu vermitteln. Scharfenberg selbst ist das beste Beispiel: „Gesunde, ausgewogene Ernährung ist in meinem hochtourigen Job ganz wichtig, damit ich genug Energie habe“, sagt sie. „Aber ich sitze sonntags auch gern mal auf der Couch und esse ein paar Chips.“