Für die perfekte Balance scheint heute fast jedes Mittel recht zu sein – und sei es noch so irre oder gefährlich. Verlieren wir vor lauter Sinnsuche den Verstand?

Manche Menschen möchte ich fest an den Schultern packen, damit sie nicht endgültig der Realität entschweben: Intelligente Freunde und hochgebildete Verwandte haben potenzierte Zuckerkugeln und Qigong längst hinter sich gelassen – und sind auf dem Weg zur geistigen oder körperlichen Gesundheit schräg abgebogen. Sie tragen heilsame Kristalle, räuchern böse Geister aus oder synchronisieren ihre Gehirnhälften mit speziellen Trainings-CDs (auf denen ich nur Rauschen höre).

All das gehört noch zu den harmloseren Auswüchsen eines riesigen Markts für esoterische Literatur, Wochenendseminare und Einzelberatungen: Für Deutschland schätzen Experten die jährlichen Umsätze konservativ auf rund 20 Milliarden Euro. Lange hatte ich hinter derartigen Zahlen nur Astro-TV-Kunden vermutet, die „energetisch aufgeladene“ Kuscheltiere zu astrologischen Preisen kaufen.

Wie sehr die alternative Dichtung des Weltgeschehens aber schon in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, wertete die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ im Frühjahr 2018 in einer Studie aus. Sie stellte konkrete Fragen zu Religion und Spiritualität: 45 Prozent der Wahlberechtigten denken, dass man Schwingungen und Störungen mit Wünschelruten herausfinden kann. 22 Prozent glauben, dass manche Schamanen mit Geistern und Toten sprechen können. Jeder Siebte ist überzeugt, dass es Zauberer gibt.

Esoterische Denkmuster sind schwer zu durchbrechen

Ich frage mich: Wie können all diese Menschen nur entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis an solchen Ideen festhalten? Und: Ist das nicht gefährlich?

„Gerade einem intelligenten Menschen fällt es manchmal sogar noch leichter, esoterische Theorien mit scheinbar schlüssigen Argumenten vor allem auch vor sich selbst zu rechtfertigen“ sagt der österreichische Psychologe und Marketing-Experte Johannes Fischler dazu. „Zudem sind intelligente Leute oftmals auch viel zu stolz, sich einzugestehen, dass sie auf dem Holzweg sind.“

Fischler selbst hat einen Freund an die Engel verloren: In einer schwierigen Lebensphase kam der damalige Altenpfleger von Meditation und Heilfasten über scheinbar harmlose Mantra-CDs dazu, direkte Botschaften vom Universum zu empfangen. Stundenlange Diskussionen mit ihm machten es nur schlimmer, glaubt Fischler:„Je mehr derjenige seine neue Überzeugungen nach außen hin verteidigen muss, desto eher festigen sie sich.“ Fischlers Freund gab in letzter Konsequenz seinen Job auf und sein ganzes Erspartes für Lichtseminare und Engelsessenzen aus.

Love-Bombing und die reine Wahrheit

Nach dieser Erfahrung ist Fischler für sein Buch „New Cage. Esoterik 2.0 – Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt“ tief in die Szene eingetaucht. Auf spirituellen Messen und in teuren Workshops erforschte er die Tricks von selbsternannten Quantenheilern und Gurus.

Gegen den absoluten Wahrheitsanspruch und die scheinbar bedingungslose Liebe, die von Esoterikern versprüht werde, sei man selbst als Skeptiker fast machtlos. „Love-Bombing“ nennt er das. „Alles ist immer sehr weiß und sehr rein, ein Bombardement mit Licht du Liebe. Die Realität mit all‘ ihren vermeintlichen Unreinheiten mutiert hingegen zum Feindbild“, so der Experte.

Der knallharte Umkehrschluss lautet: „Wer nicht strahlt, ist selber schuld.“ Und hat vielleicht noch nicht genug für reinigende Workshops ausgegeben. „In Wahrheit begeben sich die Menschen in dieselbe streng christliche und kapitalistische Logik von Schuld und Selbstausbeutung, der sie ursprünglich entfliehen wollten“, sagt Fischler. Viele von ihnen bieten bald auch selbst Therapien und Kurse für neue Leichtgläubige an. „Die neuen Jünger sollen dann das eigene spirituelle Imago verfestigen, das ist Fremdausbeutung mit Schneeballeffekt.“

Ekstase hat mit Engeln nichts zu tun

Ich bin guter Hoffnung, dass meine Lieben von Aura-Sprays noch die Finger lassen. Andererseits hätte ich nicht gedacht, dass die wissenschaftlich erprobten, positiven Effekte der Meditation eine Einstiegsdroge zum Engelstrip sein könnten.

Habe ich etwa damals im Surfcamp, als ich beim „Nidra Yoga“ in Tiefenentspannung förmlich über der Matte schwebte, schon die Grenze zum Wahn überschritten? „Derart entrückte Erfahrungen sind ganz normale Prozess im Gehirn, dabei kommt es zu Verschiebungen im phänomenalen Selbstmodell.Dem einen passiert das bei einer anstrengenden Bergwanderung, anderen meinetwegen auch bei hingebungsvollem Sex“, sagt Fischler.

„Der große Unterschied ist ja: Nehmen Sie das als eine bereichernde Erfahrung im Selbsterleben wahr, die ihr Leben vielleicht sogar einen klein wenig verändert – oder glauben Sie hinterher, dass sie zu Höherem berufen sind und nun das Göttliche Himmelsfahrzeug bestiegen haben?“ Fischler hält es für gefährlich, dass unsere Gesellschaft den Rausch mit Verboten immer weiter ausgrenzt. Denn so überlasse man die Ekstase den Esoterikern.

Lebensberater mit skrupellosen Methoden

Wie schief es gehen kann, wenn Menschen sich bei der Sinnsuche an die Falschen wenden, weiß Andrea Schleu vom Verein für Ethik in der Psychotherapie. Die Psychotherapeutin und ihre Kollegen beraten im Jahr mehr als zweihundert Ratsuchende, die bei grenzverletzenden Behandlungen teils schwer traumatisiert wurden: „Vielen geht es danach viel schlechter als vor der Therapie, manche sind sogar suizidal.“

Immer öfter seien die Verursacher nicht ausgebildete Psychotherapeuten, sondern selbsternannte Lifecoaches oder Schamanen. Manche lassen ihre Patienten nur für sich arbeiten – etwa beim Hausbau oder im Haushalt. „Andere setzen gezielt Demütigungen und Ausgrenzung von der Gruppe ein“, sagt Schleu. „Da heißt es dann: ‚Du hast es nicht anders verdient.‘ Das möchte man sich bei einem hilfsbedürftigen, labilen Menschen nicht vorstellen.“

Einzig zum sexuellen Missbrauch existieren auch Aufklärungs-Statistiken: „Von 600 Fällen, auch im professionellen Bereich, kommt es nur viermal zu einem Verfahren.“ Bei einer Verurteilung sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein strafrechtlich verurteilter Psychotherapeut sich anschließend als Lebensberater eine goldene Nase verdient.

„Wenn es teuer wird, bleiben Sie vorsichtig.“

Schleu weist darauf hin, dass der alternative Markt für Menschen auf der Suche nach Sinn keinen Schutz bietet: „Ein Schamane oder eine Tantratänzerin müssen keinerlei Ausbildung nachweisen können, arbeiten mitunter aber im selben Machtgefälle wie ein professioneller Psychotherapeut“, sagt sie.

Sie rät dazu, die Angebote von Lebensberatern oder Heilern kritisch zu prüfen. „Lassen Sie sich niemals einreden, dass Sie über eine Behandlung oder eine Selbsterfahrung schweigen sollen. Menschen auf der Suche nach Heilung dürfen sich jederzeit über das Erlebte austauschen”, sagt Schleu. „Und bleiben Sie vorsichtig, wenn es teuer wird oder wenn Heilsversprechen gegeben werden.“

So etwas würde ein echter Schamane nie machen, sagt Hildegard Fuhrberg. „Das ließe ja jede Demut vor der Schöpfung vermissen.“ Die Heilpraktikerin aus Hamburg setzt selbst auf Transparenz: „Ich ermuntere meine Patienten, eine vertraute Person zur Behandlung mitzunehmen. Ganz gleich, ob die gut findet, was ich mache.“ Seit vierzig Jahren behandele sie schon alles von Rheumaerkrankungen bis Depressionen. Trommelzeremonien gehören genauso selbstverständlich dazu wie traditionelle Heilpflanzen.

Wichtig ist Fuhrberg jedoch, dass ein Ritual für den Patienten kulturell Sinn hat: „Welche tragende, spirituelle Verbindung soll denn eine Deutsche zu einem chinesischen Glücksdrachen aufbauen? Das ist höchstens Deko.“ 

19 von 20 Schamanen können kaum etwas

Die Naturheilkundlerin ist fremden Einflüssen gegenüber dabei nicht abgeneigt und hat jahrelang von Heilern in Mexiko, der Mongolei und in Polynesien gelernt. Dieses Wissen gibt sie angepasst auch bei dreijährigen Ausbildungen an Frauen in Gesundheitsberufen weiter.

Nur wenige hätten genügend Erfahrung, sagt sie: „Bei uns kann einer von sich alles behaupten, ohne eine einzige Heilpflanze zu kennen.“ In Deutschland treffe man bei 19 von 20 Angeboten wohl auf einen „Plastikschamanen“, wie sie die Scharlatane der Branche nennt. Denn in unserer Gesellschaft fehle völlig jene strenge, soziale Kontrolle, unter der traditionelle Schamanen in ihren kleinen Dörfern stehen.

Von der sind auch jene Kollegen befreit, die mit dem halluzinogenen Pflanzengebräu Ayahuasca durch Europa touren und reinigende Zeremonien für hunderte Euros pro Person veranstalten. „Die echten Heiler, die ich kenne, wundern sich schon, woher die Leute in Europa so viel von dem Zeug kriegen, wenn man die Pflanzen doch tagelang kochen muss. Vermutlich ist da noch LSD und sonst was beigemischt.“

Heilige Pflanze oder schlechter Trip?

Halluzinogene Wochenenden seien sowieso kein Weg zu echter Balance. „Verabreichen Sie den Menschen in unserer Konsumgesellschaft auch noch Drogen und Sie geben dem Affen Zucker“, findet Fuhrberg. Die begeisterten Schilderungen vieler Ayahuasca-Nutzer beweisen für sie gar nichts: „Wenn Sie etwas als großartiges Erlebnis wahrnehmen wollen, werden Sie keine andere Empfindung mehr zulassen.“

Wer aber am nächsten Tag immer noch überall weiße Mäuse sehe, könne schließlich keine Telefonnummer anrufen, um das Geschehene einzuordnen. „Da sind die Zeremonienmeister nämlich schon längst nach Amsterdam weitergeflogen.“

Glück ist keine Jagdtrophäe

Ein Lob für Trommelrituale und den traditionellen Schamanismus kommt schließlich noch aus einer unerwarteten Ecke: Trotz seiner katholischen Prägung hält der Theologe und Glücksforscher Anton Bucher die Jahrtausende alten Rituale der indigenen Heiler für wertvolles Kulturgut. „Wir wissen, dass Menschen die Verbindung zu ihrer Umgebung, zu sich selbst und zu etwas Höherem eigentlich brauchen“ sagt der Professor der Universität Salzburg, der ein Buch zu „Psychologie der Spiritualität“ veröffentlicht hat.

Doch Spiritualität lasse sich nicht erzwingen und schon gar nicht kaufen: „Viele Menschen sind fast schon im Glücksstress und fragen sich, wie sie mit einem weiteren Seminar die nächsthöhere Bewusstseinsstufe erreichen können“, sagt Bucher. „Leider werden Menschen, die dem Glück bewusst nachjagen, sogar eher einsamer.“ Während übersteigerte Innenschau uns offenbar isoliert, ist es laut Bucher wissenschaftlich gut gesichert, dass Ehrenamtliche sich glücklicher fühlen.

Die nächsten Verwandten, die mir von blockierten Energieflüssen oder kräftigenden Wasserkristallen erzählen, könnte ich also spontan zum Helfen ins Obdachlosenwohnheim schicken? Bucher ist skeptisch: „Derjenige müsste schon eine absichtslose Neigung dazu haben. Wirklich glückliche Menschen tun nämlich gar nichts Bestimmtes dafür. Sie sind es einfach.“

(In gekürzter Form auf ze.tt erschienen)