Gemeinsam durch dick und dünn – das ist das Ideal der Freundschaft. Man sorgt sich um seine Freunde und möchte ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Aber darf man sich auch ungefragt in ihr Leben einmischen?

Marquel hat gar keine Lust, im Psycho-Sitzkreis mit ihrer Sportsucht und ihren selbstzerstörerischen Partyexzessen konfrontiert zu werden. »Die früher so erfolgreiche Fitnesstrainerin«, wie Marquel vom Moderator eingeführt wurde, rennt schreiend aus dem Raum, der Therapeut hinterher; zurück bleiben die ratlosen Gesichter von Marquels Freunden und Angehörigen. Willkommen bei »Intervention«, einer extrem erfolgreichen Fernsehserie des US-Senders A&E. Neben dem heiligen Dreiklang des Reality-TVs – Tränen, Tragik, Tobsuchtsanfälle – geht es hier um ein zwischenmenschliches Problem, das auch jeder kennt, der in dieser Art von Unterhaltung sonst nicht zuhause ist: Wie sagt man einem Freund, dass er sich gerade zum charakterlichen Totalausfall entwickelt? Dass er ein Suchtproblem hat? Oder dass er dabei ist, den größten Fehler seines Lebens zu begehen?

Die überfällige Gardinenpredigt unter professioneller Anleitung – manchmal ist das Fernsehen einen Schritt weiter als man selbst. Wenn die Fernseh-Brachial-Methode bei der bulimie-kranken Stewardess aus Oklahoma funktioniert, könnte man aber doch auch im Leben der eigenen Freunde ein bisschen intervenieren: Manchmal käme man schon in Versuchung, ihnen mit einer Realitätsspülung gründlich den verwirrten Kopf zu waschen.
Der besten Freundin würde man sagen, dass sie sich das Geld für das Riesentattoo sparen kann, weil sie die Sterne und Einhörner schon in einem Jahr nicht mehr schön finden wird. Der befreundete Kommilitone würde zu hören bekommen, dass er moralisch in der Kreisliga spielt, wenn er seine Freundin andauernd mit beliebigen Flirts hintergeht. Und der Mitbewohner würde nach der Intensiv-Behandlung hoffentlich einsehen, dass die Fotoserie über seine Füße nicht museumsreif ist und er seine gutbezahlte Stelle als Hotelmanager vielleicht behalten sollte, statt einer Künstler-Karriere nachzujagen. Doch so einfach ist das nicht:

Sich in das Leben von Freunden einzumischen, ist in der Realität deutlich schwieriger als im Reality-TV.

Die engsten Freunde kennt man seit Jahren; das Recht auf Einmischung, so denkt man, ist ehrlich erworben – man weiß doch am besten, was gut für sie ist. Tatsächlich? Geht es einen wirklich etwas an, wie der Rücken der Freundin aussieht? Sollte der Kommilitone nicht selbst entscheiden, ob er treu ist oder nicht? Und ist eine erfüllte Arbeit nicht besser für den Mitbewohner – auch, wenn er dafür auf eine Top-Karriere verzichten muss?

Foto: xophe_ge

»Kein Tadel ist zu scharf für einen Freund, der die Wahrheit nicht hören will«, mahnte der schottische Theologe Aelred von Rieval im 12. Jahrhundert. Es sei sogar der schlimmste Gefallen für einen Freund, dessen Fehler zu übergehen und ihn ins Verderben rennen zu lassen. Friedrich Nietzsche dagegen hielt allzu viel Ehrlichkeit für das Todesurteil der meisten Freundschaften: Fast immer beruhten solche Beziehungen darauf, dass gewisse Dinge nie gesagt würden. »Kommen diese Steinchen aber ins Rollen«, prophezeite der Philosoph, »so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht.«

Die empirischen Erkenntnisse der Freundschaftsforschung sprechen ebenfalls eher gegen das Einmischen: Kritik an der Beziehung zu Dritten, das öffentliche Ansprechen von Fehlern und Nörgelei wurden von 150 Befragten einer Oxford-Studie weit vorne als drei der zehn wichtigsten Gründe dafür angegeben, dass Freundschaften scheitern können.

Freunde wollen nicht gerettet werden

Die Ergebnisse seiner britischen Kollegen Argyle und Henderson seien zwar schon zwanzig Jahre alt, hätten aber an Gültigkeit nichts verloren, sagt Horst Heidbrink. Der Psychologe und Freundschaftsforscher an der Fernuniversität Hagen versucht deshalb, sich privat mit unerbetenen Ratschlägen an Freunde zurückzuhalten: »Freunde sollen gute Zuhörer sein, keine Therapeuten. Wenn man von seinem Leben erzählt, will man nicht sofort bewertet werden und eine Lösung für jedes vermeintliche Problem präsentiert bekommen. Das nervt.«

Wenn der olle Nietzsche beim Einmischen in das Leben ihrer Freunde so skeptisch war, wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass es oft nach hinten losgeht: Warum verrennen wir uns so oft und versuchen es trotzdem? Die Antwort ist so naheliegend wie brutal: Weil es uns gar nicht um unseren Freund geht, sondern um unsere verletzte Eitelkeit.

Menschen haben die Angewohnheit, ihr Ideal-Bild von sich selbst auf den Freund zu projezieren, schreibt Horst Petri, Familientherapeut und Autor des Buchs »Der Wert der Freundschaft«. Kann der Freund den hohen Ansprüchen nicht genügen, weil er plötzlich nicht mehr so erfolgreich im Beruf ist oder äußerlich weniger attraktiv, leidet das eigene Selbstbewusstsein. »Wer ein guter Freund sein will, darf nicht hochmütig davon ausgehen, dass der eigene Lebensweg der einzig richtige ist«, sagt der Psychologe Heidbrink. »Viele versuchen gegenzusteuern, indem sie sich ungefragt mit Weisheiten einmischen. Sie gefallen sich in ihrer Retterrolle«, sagt er. Wahrscheinlich will der Freund nämlich gar nicht gerettet werden, weil er keinen Anlass dazu sieht.

Was aber, wenn der Pfad, den er gewählt hat, ihn früher oder später in den Abgrund führen wird? Es fällt schwer, tolerant zu bleiben, wenn sich der sonst nicht blöde Mitbewohner in den Tagen vor dem Staatsexamen statt Jura-Büchern nur Bongs zu Gemüte führt. Muss man ihn nicht gegen seine eigene Dummheit verteidigen?

Sind dazu nicht Freunde da – um einen klaren Kopf zu bewahren, wenn der des anderen vernebelt ist?

Das hat sich auch Neon-User Tonic gesagt und sich gezielt eingemischt: Er konnte nicht länger dabei zusehen, wie seine gute Freundin Elli in die obskure Welt des Online-Rollenspiels World of Warcraft abdriftete. Als Hexenmeisterin zog sie stunden- und tagelang für ihre Gilde in den Kampf und verzichtete stattdessen immer öfter darauf, ihre realen Freunde zu treffen. Die »Off-Welt« war ihr egal geworden –  mit einigen gemeinsame Freunden trat Tonic in Aktion. »Wir versuchten, sie zum Nachdenken zu bringen und den Einfluss ihrer virtuellen Bekanntschaften zu hinterfragen.«
Es blieb lange Zeit beim Versuch; die Freunde mussten sehr geduldig und verständnisvoll sein: »Es wäre verkehrt gewesen, sie in spannungsgeladene Diskussionen zu verwickeln und allzu emotional zu werden.« Schließlich sei es an Elli gewesen, ob sie sich die Kritik ihrer Freunde zu Herzen nehmen wollte. Das Gute war: Sie wollte irgendwann. Inzwischen ist das Spiel für Elli nur noch ein netter Zeitvertreib, ihre Freunde und ihr Studium sind ihr wieder wichtiger. Die Strategie, sich einzumischen, erwies sich als richtig.

»Natürlich müssen wir unseren Freunden sagen, wenn sie sich selbst schaden«, sagt der Psychologe Heidbrink. Einer der Grundpfeiler der Freundschaft sei das Vertrauen, dass man sich im Ernstfall auch unbequeme Wahrheiten ins Gesicht sagen könne.

Auch Jennifer Melich ist heilfroh, dass jemand den Mut hatte, ihr die Meinung zu sagen. Die überzeugte Christin war über ihren damaligen Partner in eine sektenähnliche, evangelische Freikirche geraten. Dort galten strenge Regeln der Züchtigkeit und Frömmigkeit; wer sie nicht befolgte, wurde im Gottesdienst vor allen bloßgestellt.
Jennifer gab dem Druck nach und verleugnete ihre liberalen Überzeugungen »bis zur völligen Selbstkasteiung«, wie sie heute sagt. Sie spürte, wie der intensive Kontakt mit der Gemeinde sie veränderte, immer öfter fühlte sie sich leer und verzweifelt.
Dass mit ihr etwas nicht stimmte, merkte ein alter Schulfreund: »Am Telefon und wenn wir uns trafen, immer hatte ich nur dieses eine Thema. Das nervte ihn anfangs, und dann wurde er richtig besorgt«, erinnert sich Jennifer.
Der Freund reagierte richtig: »Statt auf mich einzureden und mich zu bevormunden, hörte er mir zu und sagte mir ganz ruhig seine Meinung. Er gab mir immer das Gefühl, meine eigenen Entscheidungen fällen zu können.«
Sechs Monate nach ihrem Eintritt hatte Jennifer endlich die Kraft, die Freikirche zu verlassen. Die Beziehung zu ihrem Freund wurde durch seine Einmischung nicht erschüttert – im Gegenteil: »Dass er in dieser Zeit für mich da war, hat uns noch näher zusammengebracht.«

Nicht immer wird man als kritischer Freund so viel Glück haben: Manchmal ist die Schlacht um die Freundschaft von vornherein verloren, weil der andere die Kampfzone verlassen hat. Amerikanische Soziologen bezeichnen dieses Phänomen als »friendshift«: Plötzlich verwandelt sich die frühere Hochschulsprecherin und ehrgeizige Jungpolitikerin, die man für ihren Mut und ihre große Klappe bewundert hat, in eine Hausfrau. Man erkennt sie nicht wieder. Alles was man mit ihr gemeinsam hatte; die Ideale, die Pläne, die Träume – sie sind einfach verpufft.

»Solche Veränderungen können eine Identitätskrise auslösen. Dadurch wird auch das eigene Leben in Frage gestellt, und das macht einem Angst«, sagt Carolina Asuquo-Brown. Die staatlich anerkannte Heilpraktikerin für Psychotherapie hat sich auf Freundschaftscoaching spezialisiert. Sie hört während der Sitzungen viele Geschichten vom Verletzt- und Verlassenwerden; Klienten erzählen ihr, wie erschüttert sie über die charakterliche Veränderung eines engen Freundes sind. Vorwürfe, Wutausbrüche, Flehen – all das ist sinnlos, sagt Asuquo-Brown. Es ist wie es ist. »Wenn man die neue Situation nicht ertragen kann, sollte man das offen aussprechen. Ob der Freund diese Meinung annimmt, ist dann seine Sache.«