Was im brasilianischen Porto Alegre als Antwort auf Korruption begann, ist heute auch in deutschen Kommunen angekommen: der Bürgerhaushalt. Er soll ein Stück direkte Demokratie ermöglichen. Doch mancher Wissenschaftler findet, dass die Projekte hinter den Erwartungen zurückbleiben.

Politisch aktiv sind Kurt Glogner und Klaus Dummel schon lange. Regelmäßig beteiligen sich die beiden Förster in ihrem Heimatort, dem südhessischen Groß-Umstadt, an Versammlungen. Sie rechnen hin und her, wenn es darum geht, was die Gemeinde mit ihrem knappen Budget am besten anfangen sollte. Für die Verbesserung der Nitratwerte im Boden haben sie schon gekämpft, den Bau eines Skaterparks mit auf den Weg gebracht und für Fahrradparkplätze in der ganzen Stadt gesorgt. Gerade arbeiten sie an einem
Ruftaxisystem mit Selbstverwaltung.
Kurt Glogner und Klaus Dummel haben nie auch nur eine einzige Wählerstimme erhalten. Sie sind in keiner Partei und in keinem Verein. Sie engagieren sich nicht in der Gewerkschaft und auch nicht im Arbeitgeberverband. Trotzdem haben sie – genau wie alle anderen Bürger in Groß-Umstadt – die Möglichkeit, an vielen Stellen ein Wort mitzureden, wenn es darum geht, wie ihre Kommune ihr Geld ausgibt. Und das nicht nur alle fünf Jahre zum Wahltermin: Groß-Umstadt ist eine von 140 Gemeinden in Deutschland, die einen so genannten „Bürgerhaushalt“ eingeführt hat oder das zumindest konkret plant.

In Kommunen mit Bürgerhaushalten, die manchmal auch „Beteiligungshaushalte“ genannt werden, dürfen die Einwohner in einem fest abgesteckten Teilbereich direktdemokratisch mitbestimmen, wie das Geld der Stadt oder Gemeinde ausgegeben wird. Üblicherweise treffen sich alle Interessierten regelmäßig zu Diskussionen; im Anschluss wird abgestimmt. Soll das neue Jugendzentrum gebaut werden? Müssen wir die alte Eiche im Stadtpark umzäunen? Brauchen wir einen Reinigungsdienst für den Spielplatz-Sandkasten?

Die Idee stammt aus Brasilien

Die Idee, Beteiligungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene zu stärken entstand ursprünglich weit weg von Groß-Umstadt: im brasilianischen Porto Alegre der späten Achtzigerjahre. Die Millionenstadt erstickte in Problemen: Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebte in Elendsvierteln ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Gesundheitsversorgung oder Schulen. Korruption und Klientelismus in der Stadtverwaltung verstärkten das soziale Gefälle.

1988 kam erstmals die Arbeiterpartei PT an die Macht. Ihr wichtigster Programmpunkt: Die Bürger sollten künftig auch außerhalb der Wahllokale mitbestimmen dürfen. Die Einwohner Porto Alegres wurden von nun an über die Finanzen der Stadt genau informiert. Sie sollten ihre Steuermittel selbst verteilen dürfen und sich von der korrekten und effizienten Umsetzung der eingebrachten Vorschläge überzeugen können, so das Ziel. Die Regierung entwickelte über die Jahre ein komplexes basisdemokratisches System aus Bürgerversammlungen in den einzelnen Stadtvierteln und zusätzlichen Ratssitzungen, in denen in regelmäßigen Abständen über künftige Investitionen entschieden wird. Die Macht des Parlaments wurde nach und nach immer schwächer; letztlich entscheiden heute die Bürger Porto Alegres, wofür ihre Steuergelder eingesetzt werden. Die brasilianische Hafenstadt wurde zum Paradebeispiel für kommunale Selbstverwaltung; gleichermaßen gelobt von Weltbank, UNO und Nichtregierungsorganisationen.

„Wir müssen der Politik einen Spiegel vorhalten“

In Groß-Umstadt betreut Reiner Michaelis eine abgespeckte Variante des Porto-Alegre-Projekts. Michaelis leitet in Groß-Umstadt das so genannte „Agenda-Büro“, das die Mitbestimmung der Bürger organisiert. Manchmal muss er die hohen Erwartungen dämpfen, die manch Engagierter an den Bürgerhaushalt hat. „Im Gegensatz zu Porto Alegre, wo es um existentielle Dinge geht, befinden wir uns in Deutschland schon auf einem so fein definierten demokratischen Level, dass es nur noch um Promille der Verbesserung geht – nicht um Überlebensfragen“, sagt er. Die Projekte, die umgesetzt werden, sind dementsprechend klein. Manche Vorschläge können gar überhaupt nicht realisiert werden. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, auf dem örtlichen Winzerfest für jede verkaufte Flasche Wein 10 Cent Aufschlag zu erheben, um die Kosten der Bücherei zu decken. Das konnte die Stadt aber nicht machen – der Schritt wäre einer staatlichen Alkoholsteuer gleichgekommen. So scheitern etliche Vorschläge engagierter Einwohner an kleinen juristischen Hürden.

Die Groß-Umstädter Bürger Kurt Glogner und Klaus Dummel sind trotzdem mit Leib und Seele dabei. „Die Frage ist ja: Wie kann ein Haushalt nachhaltig organisiert werden?“, sagt Dummel: „Die Staatsverschuldung ist alarmierend. Es muss etwas passieren, wir müssen der Politik einen Spiegel vorhalten.“ Glogner pflichtet ihm bei: „Bevor wir den Bürgerhaushalt hatten, hatte ich das Gefühl, dass die Politik nicht nach langfristigen Zielen handelte, sondern nach Gelegenheit“, sagt er. „Aber Stadtentwicklung geht über Wahlperioden hinaus. Ich will mitgestalten, ohne einer Partei angehören zu müssen.“ Der Bürgerhaushalt sei ein positiver Ideenwettbewerb: „Wir verfolgen nur Anliegen, die konsensfähig sind. Das ist frei nach Habermas der zwanglose Zwang des besseren Arguments. Denn Gemeinwesen, das sind wir alle.“

Eine politische Einstellung, die manche Institutionen gerne gezielt mit Bürgerhaushalten fördern würden: Die Bertelsmann-Stiftung publizierte schon 2003 einen Reformvorschlag, der die Einführung einer kommunalen Bürgersteuer und eines Beteiligungshaushalts für Kommunen in ganz Deutschland vorsah. So sollte ihre Handlungsfähigkeit gesichert sein; den Bürgern sollte ihr Beitrag zum öffentlichen Leben klar werden, gleichzeitig würde die Effizienz der Verwaltung erhöht werden. Tatsächlich haben Studien in Schweizer Kommunen gezeigt, dass in Gemeinden mit direkt-demokratischen Elementen das Ausgabenniveau weitaus geringer war und die „Steuermoral“ der Menschen deutlich höher lag, als in Gemeinden mit stark repräsentativen Strukturen. In der Schweiz sind die Kommunen jedoch allgemein kleiner als in Deutschland, daher können sie ihre Einnahmen viel autonomer verwalten.

Knappe Mittel, unverbindliche Zusagen

Carsten Herzberg, Politologe am deutsch-französischen Institut Centre Marc Bloch in Berlin, sieht sowohl Chancen als auch Risiken der Bürgerhaushalte. „Der Bürgerhaushalt hat die Lebensbedingungen der Menschen deutlich verbessert“, sagt der Wissenschaftler. An den deutschen Bürgerhaushaltsmodellen kritisiert er gleichwohl, dass die Anliegen der Teilnehmer meist nicht gewichtet würden – und dass mit vielen sehr halbherzig umgegangen werde. „Im Moment werden die Vorschläge der Menschen meist noch sehr unverbindlich behandelt“, sagt er.

Groß-Umstadt ist da eine recht vorbildliche Ausnahme: „Wir haben uns verpflichtet, die Bürger detailliert zu informieren, ob und welche ihrer Anregungen angenommen wurden“ sagt Projektleiter Michaelis. „Rund 80 Prozent aller Bürgervorschläge werden umgesetzt.“ Die restlichen Ideen scheitern entweder aus juristischen Gründen oder weil das nötige Kleingeld fehlt.

Knappe Mittel sind generell eines der häufigsten Probleme, die Bürgerhaushalte zum Scheitern bringen: Gerade bei den aktuellen Sparzwängen in den Kommunen sei oft schon das gesamte Budget verplant, wenn die Bürger in Versammlungen oder Fokusgruppen um ihre Anregungen gebeten werden, sagt Herzberg. „Das ist sehr frustrierend für alle Beteiligten und führt oft dazu, dass der Bürgerhaushalt am Ende wieder aufgelöst wird.“ Oberstes Gebot beim Beteiligungshaushalt sei es, keine falschen Hoffnungen zu wecken, sondern „zu tun, was man sagt“. Herzberg rät daher allen Gemeinden, die einen Bürgerhaushalt planen, ein gesondertes Budget für die Anliegen der Menschen einzurichten – sei es auch noch so klein. Reiner Michaelis aus Groß-Umstadt sagt dazu ganz ehrlich, dass er keine Ahnung habe, woher er ein solches Budget nehmen sollte: „Wir haben dieses Jahr ein Defizit von vier Millionen Euro.“

Nur die Interessierten machen mit

Herzberg sieht außerdem noch eine ganz andere Gefahr: Bürgerhaushalte geben den Menschen zwar die Möglichkeit, sich zu beteiligen, aber längst nicht jeder nutzt sie. Das führe zu Ungleichgewichten. „An den Versammlungen nehmen meistens nur die üblichen Verdächtigen teil.“ Manchen Kommunen sei es gelungen, auch die weniger engagierten und politisch gebildeten Bürger ins Boot zu holen: Es wurden Straßenstände aufgestellt, Kontakt zu sozialen Einrichtungen gesucht und die entsprechenden Zielgruppen direkt angeschrieben und eingeladen.
Trotzdem weiß auch der Groß-Umstädter Projektleiter Michaelis, dass sich vor allem Menschen ähnlicher sozialer Herkunft an den Entscheidungen beteiligen: „Sie sind gut gebildet, akademisch orientiert und an Verfahrensfragen interessiert. Bürger, die auch zu argumentieren wissen und sich in komplizierte Sachverhalte hineindenken können.“

Die Hoffnung mancher Politiker, dass Bürgerhaushalte die Beteiligung an Kommunalwahlen in die Höhe treiben könnten, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. In Groß-Umstadt ist sogar genau das Gegenteil passiert. „Es hat sehr enttäuscht, dass die Wahlbeteiligung in Groß-Umstadt während der letzten vier Kommunalwahlen von 73 auf 46 Prozent abgesackt ist“, sagt Michaelis. Ob die Bürger vielleicht gerade aufgrund der neuen Beteiligungschancen noch weniger Sinn in der Wahl von Repräsentanten sehen als früher, vermag er nicht zu sagen. Förster Klaus Dummel glaubt jedenfalls fest daran, dass die Macht der Kommunalpolitiker in Groß-Umstadt und anderswo durch die Bürgerhaushalte gehörig beschnitten wird: „Die Politiker wissen noch gar nicht, was ihnen da blüht“, sagt er. „Da weht bald frischer Wind durch die Kommunen!“

Der Artikel war Teil des Dossiers „Wirtschaft anders denken“ und entstand in Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Florian Siebeck.