Drei gelbe Kräne ragen aus dem riesigen Krater hinter dem Zentralgebäude des Uniklinikums Frankfurt hervor. Als „Südliche Erweiterungsbauten – Haus 23 D, E und F“ verkündet ein Baustellenschild Millioneninvestitionen in moderne Medizin. Auf dem Klinikgelände, das so groß wie die Frankfurter Altstadt sein soll, wird geheilt, geforscht und gelehrt. Was die 3800 Studenten hier lernen, ist hochspezialisiert, mit besten Mitteln ausgestattet und an der Grenze zum Machbaren.

„Supramaximalmedizin“ nennt Ferdinand Gerlach den Fachbegriff dafür. Der fast 53 Jahre alte Professor leitet das Institut für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität. Nur einen Steinwurf von der Baustelle entfernt, medizinisch aber anders ausgerichtet: Hier bereiten sich die Hausärzte von morgen auf das breite Spektrum von Krankheiten vor, hier sollen Prävention und gesundheitliche Grundversorgung für alle gesichert werden.

Der Lehrstuhl ist noch jung

In den langen Fluren des ehemaligen Diakonissenheims kommt eine weiß getünchte Holztüre nach der anderen – dahinter lagen früher die Schwestern in ihren Betten. Heute dominiert ein gläserner Schreibtisch das ordentliche Büro des Direktors, sonst nur durch zwei abstrakte Gemälde und eine mannshohe Topfpflanze dekoriert. Auch Gerlach selbst erscheint aufgeräumt: Ein großer, schlanker Mann in hellblauem Hemd und dunkler Anzughose; dazu klassische Manschettenknöpfe.

Beim Blick auf den Lesesaal der Bibliothek in der ehemaligen Kapelle kommt er ins Erzählen: „Um Infektionskrankheiten zu vermeiden, errichtete man Kliniken früher im Pavillonstil, also einzelne Gebäude für jede Fachrichtung. So würde man heute nie mehr bauen.“
Die Allgemeinmedizin hat eine relativ kurze universitäre Karriere – erst seit 1979 gibt es das Frankfurter Institut. „Damit liegen wir weit vorne, zumal es bisher nur an zwei Dritteln der Medizinstandorte eigene Lehrstühle für Allgemeinmedizin gibt.“ Der Stellenwert in der Ausbildung müsse größer werden und das Fach von seinem Image als „Feld-Wald-und-Wiesen-Medizin“ wegkommen.

Er hält Kontakt zu den Studenten

Die Anforderungen an Hausärzte seien höher als je zuvor: „Der demographische Wandel sorgt dafür, dass wir zunehmend ältere Patienten mit chronischen Krankheiten haben; über die Hälfte von ihnen hat mehrere davon gleichzeitig“, sagt Gerlach. „Die Betroffenen werden nicht selten von verschiedenen Fachärzten zugleich behandelt und gehen mit fünf, zehn, fünfzehn unterschiedlichen Medikamenten heim“, sagt er. „Irgendwer muss den Überblick behalten und die einzelnen Befunde und Therapien sinnvoll zusammenführen.“

„Es gibt keinen generellen Ärztemangel in Deutschland. Wir haben in erster Linie ein Verteilungsproblem.“

„Multimorbidität“, das ist der Fachbegriff für dieses Problem. Den würde der Professor nie unerklärt stehenlassen. Er will verstanden werden, ist aufmerksam und lässt sich Zeit für jede Antwort.
Man ahnt, wie er sich als Mentor um seine Studenten kümmert. Beim Italiener vor dem Klinikgelände spricht er mit ihnen über das Studium, die Schwierigkeiten, die Ziele. „Nach wie vor stehen Medizinstudierende unter Druck“, sagt Gerlach. Daran habe sich seit seiner Zeit nichts geändert. Umso wichtiger, sie zu begleiten und: sie zu begeistern.

Mehr als ein wandelnder Rezeptblock sein

„Die Allgemeinmedizin ist spannend, weil sie den ganzen Menschen sieht, nicht nur ein einzelnes Organ“, sagt er. „Ein guter Hausarzt ist mehr als ein Humaningenieur, der schnell ein Organ repariert oder ein Medikament aufschreibt.“ Weil er Patienten emotional halten muss, wenn die Heilungschancen schlecht sind, etwa bei Krebserkrankungen. „Hausärzte müssen gut zuhören können“, sagt Gerlach.
Nur so könne man die richtige Diagnose stellen, das Chronische oder akut Gefährliche vom Normalen trennen. „Man kann nicht jedem, der mit Kopfschmerzen ins Behandlungszimmer kommt, eine Computertomographie verschreiben.“

Spezialist für den ganzen Menschen – so beschreibt Gerlach den Allgemeinmediziner am liebsten. „Hier erleben unsere Studieren- den Hightech-Medizin und sehr kranke Menschen. Aber nur 0,5 Prozent aller Patienten werden in Unikliniken behandelt, ein überwiegender Teil geht zum Hausarzt.“
Momentan entscheiden sich dennoch nur zehn Prozent der Studenten für die Allgemeinmedizin und hausärztliche Medizin. „Dabei brauchten wir eigentlich 20 bis 30 Prozent qualifizierte Allgemeinmediziner für die flächendeckende Grundversorgung“, sagt Gerlach.

Gesundheitsweiser mit Elan

Spricht er hier nun als Institutsleiter, als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) oder gar als Gesundheitsweiser der Bundesregierung? Ferdinand Gerlach hat nämlich alle diese Funktionen inne, hat „drei Hüte auf“ wie er sagt. Seit 2012 ist er als erster Allgemeinmediziner der Vorsitzende des Sachverständigenrats Gesundheit und hat schon verschiedenen Ministern Gutachten zur Lage des nationalen Gesundheitswesens übergeben. Seine Zusatz- aufgaben kommen zum Posten des Direktors noch dazu, so dass Gerlachs Arbeitswoche meist 60 bis 70 Stunden zählt.

Wenn er sich entspannen will, spielt er Golf. Klar, ein Ärzteklischee, aber das seien Vorurteile. „Man braucht meditative Konzentration, eine Mischung aus Anspannung und Entspannung.“ Nur da kann er richtig abschalten. „Wenn ich bloß spazieren gehe, denke ich erst recht über die Arbeit nach.“

Auch in der Pendelzeit arbeitet er

Momentan leidet das Spiel aber: In diesem Sommer ist wieder ein Gutachten fällig, „bei dem vor allem Lösungen für die zukünftige Versorgung im ländlichen Raum im Fokus stehen“. Daran hat er über Weihnachten und Neujahr gearbeitet.
In zwei Tagen wird er wieder nach Berlin fahren, mit seiner Bahncard 100, und weiß schon, welchen Vortrag er in diesen Stunden vorbereitet. „Ich nutze die Zeit im Zug ganz intensiv, das ist ein Teil meiner persönlichen Strategie“, sagt Gerlach. Er pendelt täglich, wohnt in Marburg an der Lahn, wo seine Frau als Professorin arbeitet. „Sobald es technisch überhaupt möglich war, habe ich mir ein Notebook mit UMTS-Karte besorgt, um E-Mails empfangen und senden zu können“, erzählt er.
Gerlach wirkt nicht gestresst, auch nicht müde. „Die überspitzte Diskussion um die perfekte Work-Life-Balance halte ich für verfehlt“, sagt er. „Es geht mehr darum, was man in seinem Leben tut, als wie viele Stunden man es tut.“

„Ein guter Hausarzt ist mehr als ein Humaningenieur, der schnell ein Organ repariert oder ein Medikament aufschreibt.“

Seine Liebe zum Fach schwingt auch in solchen Sätzen mit: „Früher bin ich begeistert im Notarztwagen gefahren oder im Hubschrauber mitgeflogen, 1000 Einsätze habe ich sicherlich gemacht.“
Nach dem Medizinstudium in Göttingen stellte er mit der Studierichtung „Public Health“ an der Medizinischen Hochschule Hannover früh die Weichen für seine jetzige Arbeit. „Dort behandelten wir Themen wie Prävention, Epidemiologie, Management und das Gesundheitssystem als Ganzes. Das lernt man als Medizinstudent normalerweise nicht.“ Heute genießt er es, dass er in seinen Funktionen etwas verändern und „ja, auch dass ich die Welt ein bisschen besser machen kann.“ Im Großen wie im Kleinen.

Hessische Studenten wollen wieder Hausarzt werden

In Hessen hat das Institut schon Einiges erreicht – das Interesse an der Allgemeinmedizin steigt wieder. Praktische Erfahrungen und intensive Betreuung hieß das Rezept dafür: „Vom ersten Tag an der Universität
bis zum praktischen Jahr begleiten wir die Studierenden“, sagt Gerlach.
Die etwa 400 Humanmediziner eines Jahrgangs müssen zumindest zweimal innerhalb der Ausbildung in die Rolle des Hausarztes schlüpfen: „Der Kurs ‚Allgemeinmedizin‘ findet in Lehrpraxen statt, und beim 14-tägigen Blockpraktikumschaft werden sie hier sogar eins zu eins betreut. Dort sehen sie sehr viele Patienten und ein breites Spektrum an Krankheiten.“ In ganz Südhessen sind die 130 hausärztlichen Lehrpraxen verteilt, Gerlach und sein Team tauschen sich stetig mit ihnen aus.

„Der Kontakt mit Menschen ist mein Kerngeschäft“, sagt Gerlach. „Ich übertrage meinen Mitarbeitern gerne schon früh Verantwortung und lasse ihnen viel Freiheit, eigene Ideen zu entwickeln.“
So entstehen Konzepte wie das Projekt „Landpartie“, mit dem Landkreis Fulda als Partner: Studenten gehen für das Blockpraktikum in die Provinz, gesellige Wanderungen und ein Rundflug über reizvolle Landschaften inklusive. Ein pragmatischer Lösungsansatz für den Ärztemangel am Land.

Eine unabhängige Stimme im Lärm der Lobbyisten

Eines stellt Gerlach auch als Sachverständiger immer wieder klar: „Es gibt keinen generellen Ärztemangel in Deutschland. Wir haben in erster Linie ein Verteilungsproblem.“ In städtischen Problemvierteln mit wenigen Privatpatienten ebenso wie in dünn besiedelten Landregionen. Solche Über-, Unter- und Fehlversorgung sollen die Gesundheitsweisen erkennen und Konzepte dagegen entwickeln. „Wir benötigen Ärzte einerseits vor allem dort, wo sie am meisten gebraucht werden. Und wir müssen die Patienten andererseits vor unnötiger Diagnostik und überflüssigen Eingriffen schützen.“

In einem Milliardenmarkt wie diesem kann man mit solchen Ansagen Staub aufwirbeln. „Das Ausmaß der Interessenvertretung hat merklich zugenommen“, sagt Gerlach. „Viele Verbände, von der Pharmaindustrie bis zu den Medizingeräteherstellern, betreiben nicht selten auch gezielte Desinformation.“ Und die falle bei manchem Politiker oder auch bei manchem Arzt auf fruchtbaren Boden: „Das System ist extrem unübersichtlich, kaum einer kann das im Detail überschauen.“

Er und die anderen Sachverständigen sollen als unabhängige Berater, frei von Partikularinteressen, genau das leisten. „Es ist nicht so, als würden wir der Politik in den Block diktieren“, sagt Gerlach. „Manchmal dauert es nur ein Jahr, oft aber auch fünf oder zehn Jahre,bis ein entsprechendes Gesetz formuliert ist.“ Einige Vorschläge werden nie umgesetzt. Gerlach verdrießt das nicht, es gibt noch so viel zu tun. Wichtig ist ihm das große Ganze.


Der Direktor

Professor Ferdinand Gerlach, Jahrgang 1961, promovierte 1987 in Humanmedizin an der Universität Göttingen und wurde fünf Jahre später Facharzt der Allgemeinmedizin. Zusätzlich schloss er „Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen“ (Public health) an der Medizinischen Hochschule Hannover ab. Seit 2004 leitet er das Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2012 ist er der Vorsitzende der Gesundheitsweisen. Mit seiner Frau, ebenfalls Professorin, lebt er in Marburg an der Lahn.

Das Institut
Erstmals im Jahr 1973 erteilte die Goethe-Universität einen Lehrauftrag für Allgemeinmedizin, 1979 wurde das Institut aus Stiftungsmitteln gegründet. Heute gehört es zu den führenden und größten allgemeinmedizinischen Instituten Deutschlands.