Tagsüber gestaltet der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel Luxusläden für Modemarken oder Büros für Konzerne. In der Freizeit entwirft er Möbel im Bauhaus-Stil, die man nicht kaufen kann. Seine Hartz IV Möbel muss man selbst bauen – und danach am besten gleich die ganze Wohnung umstellen.

Foto: BMW Guggenheim Lab, Christine McLaren

Ein Hammer wird in meiner Hand zum Verletzungsrisiko. Kann ich trotzdem deine Möbel bauen?

Natürlich, ich war selbst eine handwerkliche Niete. Mein erster Stuhl ist aus verletztem Ehrgefühl entstanden. Ich wollte mir endlich beweisen, dass auch ich etwas bauen kann. Normal bin ich nämlich eher der Typ, der Dinge mit dem Kopf zu lösen versucht. Vor einer lockeren Türklinke habe ich auch heute noch Bammel. Aber es kommt der Moment im Leben, da muss man mit dem Hammer und der Säge zeigen, dass man ein Mann ist.

Also bist du ganz männlich in die Volkshochschule gegangen?

Die Volkshochschule hat natürlich ein uncooles Image. Aber um das Tischlern zu lernen, war die Werkstatt ideal. Immerhin habe ich als Nichtskönner dort innerhalb von 24 Stunden einen eigenen Stuhl gebaut. Und der hat sogar eine Fingerverzinkung. So etwas machen eigentlich nur richtige Tischler, keine Laien. Darum war ich auch mächtig stolz auf den 24 Euro Chair und habe ihn im Internet hergezeigt.

Er wird inzwischen von Leuten aus der ganzen Welt nachgebaut, fast 800 Anfragen kriegst du am Tag. Warum wollen die Menschen selber Möbel bauen, wenn es bei Ikea doch immer noch günstiger geht?

Do-It-Yourself ist für mich ein Ausdruck für den allgemeinen Zeitgeist. Wir fragen uns, wo unser Essen herkommt, warum ein T-Shirt nur fünf Euro kostet und wer dabei verdient hat. Die beste Möglichkeit, um diese komplexen Fragen ein bisschen besser zu verstehen, ist Selbermachen. Die Menschen wollen nicht mehr fressen, was ihnen im Laden vorgesetzt wird. Deshalb war wohl das Interesse für diesen Stuhl so groß. Seither kann ich gar nicht mehr aufhören, neue Entwürfe für alle zu machen.

Du teilst deine Baupläne mit allen Interessierten und nimmst auch in Kauf, dass sie verändert werden.

Ich freue mich sogar darüber. Denn so werden die Entwürfe laufend verbessert. Die Leute schreiben mir, dass die Armlehnen zu dünn sind oder der Gurt zu locker. Vom ersten Modell gibt es mittlerweile schon die Version 3.0.

Man kriegt deine Pläne aber nicht umsonst. Jeder muss ein Formular mit Fragen beantworten. Warum?

Die Geschichten der Leute sind meine Bezahlung. Ich liebe diese Geschichten, ich bin regelrecht süchtig danach. Dafür bekommen die Menschen aber auch was: Sie kriegen Applaus für ihr fertiges Projekt und eine Plattform auf meiner Website. Und im besten Fall verändert sich auch ihr Leben ein bisschen. Möbel bauen macht nämlich mobil: Du musst eine Werkstatt suchen und das Holz kaufen. Oder du musst Leute, die du seit zehn Jahren nicht gesprochen hast, anrufen und nach ihrer Säge fragen. Das ist ein wichtiger Teil des Konzepts.

Was sind das für Menschen, die deine Pläne anfordern?

Manche wollen einfach nur diesen Stuhl. Die würden normalerweise zu Ikea gehen. Einige sind tatsächlich Hartz-IV-Empfänger. Die stören sich auch nicht an dem Namen „Hartz IV Möbel“, sondern fühlen sich angesprochen.
Dann gibt es noch die in der Umbruchphase: Der Student, der jetzt eine eigene Wohnung hat. Die Frau, die sich von ihrem Freund getrennt hat. Ein Paar, das in einer neuen Stadt zusammenzieht. Die haben das Bedürfnis, den Neuanfang mit einem erfolgreichen Projekt zu markieren. Und das Möbel, das sie gebaut haben, wird sie immer an diese aufregende Zeit erinnern.
Und noch eine große Gruppe sind junge Frauen, die wie ich etwas beweisen wollen. Deren Vater ist zum Beispiel Ingenieur und die wollen dann eines Tages zu ihm sagen können: „Schau mal Papa, ich habe selbst einen Stuhl gebaut.“

Darauf darf man auch stolz sein.

Der Bauhaus-Leiter Mies van der Rohe hat mal gesagt, es sei schwerer, einen guten Stuhl zu bauen als einen Wolkenkratzer. Und das stimmt. Denn ein Hochhaus besteht einfach nur aus einem vervielfachten Grundriss. Bei einem Stuhl geht es aber um jedes Detail. Da kannst du keine Fassade drum herum machen, keine hässlichen Rohre verschalen. Nichts lässt sich verstecken, das Design ist total pur.

Deine Entwürfe sind besonders puristisch. Und überall steckt Bauhaus drin.

Das ist mir eigentlich erst hinterher bewusst geworden. Bei meinem ersten Stuhl wollte ich nicht viel mehr als zwanzig Euro ausgeben, nicht lange bauen müssen und nicht viel Holz verwenden, weil ich kein Auto hatte, um das Material aus dem Baumarkt zu karren. So landete ich bei den urdeutschen Idealen des Bauhauses: Überflüssiges weglassen – und „form follows function“.

Manche deiner Möbel kann man zusammengebaut in die U-Bahn mitnehmen. Warum ist das so wichtig?

Wir brauchen Möbel, die unserem Leben entsprechen. Und das ist global geworden. Die Leute überlegen, ob sie in Frankfurt studieren, in München arbeiten, in New York leben oder vielleicht in Japan ein Praktikum machen sollen. Es gibt viele Möglichkeiten, wir haben mehrere Identitäten. Darum umgeben wir uns gerne mit Dingen, die global funktionieren.
Und unsere Biographie ist auch nicht so, wie es uns immer noch beigebracht wird: Ausbildung, Job, Heiraten, Familie gründen, Sterben. Das alles geht ineinander über und deshalb müssen auch die Möbel das mitmachen.

Der selbstgebaute Hocker für das ganze Leben?

Wenn alles um einen herum virtuell und in Bewegung ist, braucht man Dinge, die einen erden und die Bestand haben. Darum liebe ich auch Holz so sehr. Es ist lebendiges Material, das seinen Wert behält. Man würde es nicht einfach so wegwerfen.
Ich achte auch bei meinen Entwürfen darauf, dass sie „enkeltauglich“ sind. Wen man überlegt, wie ein Gegenstand auch in vielen Jahren noch sinnvoll sein kann, wird es automatisch nachhaltig. Die Kinder deiner Kinder sollen irgendwann auf einem Hocker sitzen und wissen, den hat Oma gebaut.

Foto: BMW Guggenheim Lab, Christine McLaren

Dein Motto ist auch „Konstruieren statt Konsumieren“. Ist dir diese Einstellung aus der Zeit geblieben, in der du selbst von Sozialleistungen abhängig warst?

Für mich war das nicht schlimm. Ich bin mit meinen Eltern von Laos nach Deutschland geflohen und kannte keinen Wohlstand. Mich hat das eher erfinderisch gemacht. Aber vom Geld hängt natürlich die Wohnsituation ab: Wieviel Platz hat man, in welchem Viertel lebt man, wie riecht es da an der Straßenecke? Das ist sehr prägend. Je nachdem, wieviel man hat, träumt man aber auch von anderen Dingen. Früher wollte ich Sachen, die mir heute nicht mehr wichtig sind. Wir hatten zum Beispiel ein Bild von einem Palmenstrand auf einer Fake-Holztapete. Wir dachten, Holzvertäfelungen sind etwas für reiche Leute.

Die meisten leben ja nicht so, wie sie es sich erträumen. Welche schrecklichen Möbel siehst du ganz oft?

Es gibt Trends, denen die Menschen hinterher rennen, auch wenn sie mit ihrer Realität nichts zu tun haben. Zum Beispiel das riesige Sofa; man nennt es auch Sitzlandschaft. Diese nutzlosen Ungetüme sollen sagen: „Ich bin ein wahnsinnig urbaner Typ und lebe in einer ausgebauten Fabrikhalle. Darum habe ich auch ein wahnsinnig großes Sofa.“ In Wahrheit leben aber die wenigsten Leute in so einem Loft. Viel eher wohnen sie in einer WBS 70.

Was ist das?

Die Wohnbauserie 70 der ehemaligen DDR, der am weitesten verbreitetste Plattenbautyp Deutschlands. Menschen mit wenig Geld und auch viele Studenten leben in solchen Wohnungen. Die 1-Zimmer-Appartments haben einen Wohnraum von etwa 20 Quadratmetern. Da passt keine XXL-Sitzlandschaft rein. Oder schon, aber dann hat man keinen Tisch mehr. Und das heißt, dass man seine Eltern nicht zum Osteressen einladen kann.

Also im Zweifel immer den Tisch wählen?

Man muss sich überlegen, welche Bedürfnisse man hat. Und da die meisten Leute soziale Kontakte wollen, ist es sinnvoll, einen großen Tisch zu haben.

Du hast noch ein klassisches Studenten-Problem gelöst: Bett oder Sofa?

Am besten beides in einem. Allerdings schläft man auf den meisten Bettsofas nicht gut, weil sie keinen Lattenrost haben. Oder aber der Schlafkomfort stimmt, aber sie haben keine Armlehnen, wie das Beddinge von Ikea. Hast du schon mal probiert, auf einem Sofa ohne Armlehnen zu knutschen? Man fällt auf den Seiten runter. Das ist fortpflanzungsfeindlich. Ein Möbel muss einladend sein. Man soll Lust auf Sex kriegen.

Dein Singlewohnungs-Sofa ist sextauglich?

Es ist ein Bettsofa mit Lattenrost und Lehnen zum Knutschen. Also ja. Man kann die Rückseite aber auch an einem Tisch als Sitzbank verwenden.

Die vielen Funktionen sind ja typisch für deine Entwürfe.

Je vielseitiger die Möbel, desto besser. Denn die Wohnung muss dir Angebote machen: Dass du Spaß hast, dich vermehrst, kochst und Freunde zum Essen einlädst. Möbel sollten all das ermöglichen und nicht verhindern.

Wenn man in einem Raum Arbeiten, Essen, Schlafen, Feiern und Sex haben will: Wie sollte man vorgehen?

Wichtig sind Zonen für die verschiedenen Funktionen der Wohnung. Man muss sie richtig schön inszenieren, zum Beispiel mit einer auffälligen Pendel-Leuchte. Auch Teppiche sind sehr gut geeignet, um Bereiche abzugrenzen. Und was ich noch erkannt habe: In kleinen Wohnungen sind große Möbel an sich kein Problem, solange man sie richtig platziert.

Und zwar wie?

Das größte Möbel muss in die Mitte. Die meisten Menschen trauen sich das aber nicht, lassen die Mitte lieber frei und quetschen alles an den Rand. Dabei sollte man gerade in kleinen Räumen ein paar Störer einbauen. Dadurch ist man nämlich gezwungen, um Möbel herumzulaufen und wechselt automatisch öfter die Perspektive. Das Gehirn nimmt mehrere Bereiche des Zimmers wahr und denkt: Wow, so viele Eindrücke, ist ja bestimmt total riesig hier. Der Raum wirkt plötzlich größer, obwohl man ihn kleiner gemacht hat.

Stolpert man in Studentenzimmern nicht schon über genug Kram?

Gerade in kleinen Wohnungen sollte man einfach weniger Zeug haben. Winziger Lebensraum ist ja ein Städterproblem. Darum sollten sie sich auch an die Stadt anpassen und die örtliche Infrastruktur nutzen. Ich brauche nicht einen amerikanischen Kühlschrank und ein riesiges Lager, wenn der Supermarkt am Eck die Lebensmittel gratis für mich kühlt.

Was kann ich noch tun, um mich in meiner Wohnung wohler zu fühlen?

Vor allem muss man die Identität des Ortes akzeptieren. Das klingt etwas spirituell, hat aber mit Ästhetik zu tun. In einem niedrigen Neubau sollte man nicht so tun, als wäre es ein Jahrhundertwendehaus. Der Architekt wollte, dass man modern und horizontal darin lebt. Natürlich kann man trotzdem verschnörkelte Landhausmöbel reinstellen, es wird sich aber immer irgendwie widersprüchlich anfühlen.

Deine Entwürfe entwickeln sich evolutionär weiter. Sollte man auch seine Wohnung so einrichten: Langsam?

Unbedingt. Eine Wohnung einzurichten, ist wie eine Beziehung aufzubauen. Vieles kann man vorher gar nicht planen: Wie fällt das Licht morgens durchs Fenster? Wo haben die Nachbarn ihr Badezimmer? Gibt es Stellen am Boden, die immer knirschen? Oder habe ich intuitiv einen Lieblingsplatz? Man sollte lieber nichts überstürzen. Aber schon mutig sein und immer wieder neue Dinge ausprobieren.

Alleine einrichten geht ja noch, da ist man wenigstens der Boss. Was aber, wenn man mit dem Partner zusammenzieht? Sind Geschmackskriege da nicht vorprogrammiert?

Die erste gemeinsame Wohnung baut einen enormen Erwartungsdruck auf: An sich, an den Partner, an die neue Wohnung. Wenn die Nachbarn nicht nett sind, die Sonne zu früh weg ist oder es auf den Balkon regnet: Alles ist sofort ein Drama. Darum sollte man am besten die Erwartungen ganz runter schrauben und sich überraschen lassen. Meine Verlobte und ich haben uns jeweils die Entscheidungshoheit über einen Raum gegeben. Dadurch hätte es nie einen Streit über das richtige Bett, das beste Sofa oder den schönsten Tisch gegeben. Wir haben den anderen einfach machen lassen.

Was hast du selbst erst über Einrichtung lernen müssen?

Früher habe ich fremde Stile nachgeäfft. Hat mir eine Seite im Ikea-Katalog gefallen, habe ich sie genau so nachgekauft. Das ging so weit, dass ich über jedem einzelnen Bilderrahmen eine kleine Lampe montiert hatte, genau wie im Katalog. Bis ich kapiert habe, dass die das nur machen, um die Bilder besser zu verkaufen. Es sah total bescheuert aus.
Inzwischen weiß ich, dass man sich mit den Dingen umgeben muss, die man liebt. Nicht mit Sachen, von denen man sich Anerkennung erhofft. Es ist egal, wenn auf deiner Couch eine kitschige Hello-Kitty-Decke liegt. Wenn sie dich glücklich macht, weil du sie von deinem Freund bekommen hast: Verwende sie und steh dazu.

 

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in der Jubiläumsausgabe von NEON. Außerdem erschien es, leicht abgewandelt, im Buch Hartz IV Moebel.com – Build More Buy Less. Konstruieren statt Konsumieren.

Fotos: BMW Guggenheim Lab, Christine McLaren